Sea Beneath The Skin
ZurückDas Lied von der Erde und vom Meer
von Jérôme Quiqueret
Sommer 1908: voller Trauer über den Tod seiner jungen Tochter, überzeugt davon, sterbenskrank zu sein und Opfer antisemitischer Anfeindungen, kurz, inmitten einer existentiellen Krise, findet der österreichische Komponist Gustav Mahler Trost und Inspiration in der chinesischen Kultur. Er komponiert Das Lied von der Erde, das Lied einer lachenden Erde und eines menschlichen Wesens, das nicht in der Lage ist, die Freude, die ihn immer wieder erfüllt, zu bewahren.
Frühjahr 2024: auf Basis dieser für die klassische Musik des Westens als Meisterwerk geltenden Partitur erweist der samoanisch-neuseeländische Künstler Lemi Ponifasio der Natur eine ähnliche Reverenz, mit ähnlichem Unbehagen bezüglich der Zukunft des Menschen, welche durch die von seiner Hybris ausgelösten Erderwärmung auf dem Spiel steht.
Ein Theater der Kosmovision
Sea Beneath The Skin zeigt in all seinem Glanz den Ehrgeiz des Choreografen, ein Theater der Kosmovision zu entwickeln. Darunter kann man sich ein Theater vorstellen, das in einer Gegend, in einer Kultur wurzelt, nämlich in derjenigen der südpazifischen Inseln, und von der aus es aufbricht, der Welt zu begegnen. Konkret heißt das hier im Rahmen des red bridge project, dessen dritten Akt es darstellt, als eine Begegnung mit der westlichen Welt und ihrer allmächtigen Kultur. Und ohne Zweifel und auf paradoxe Weise ist in Sea Beneath The Skin die Konfrontation am unmittelbarsten. Die Kunst des Pazifiks und die Kunst des Westens vereinigen sich, begegnen sich zumindest, während des ganzen Stücks. Während in Jerusalem und in Love to Death, den ersten beiden Akten des Projekts, die westliche Kunst entweder im Hintergrund blieb – wie in ersterem Stück – oder eine weniger schöne Rolle hatte, wie in letzterem.
Lemi Ponifasio sieht in der Philharmonie ein Denkmal der westlichen Kultur, «gewidmet denen, die entschieden, wie ich zu sein hätte», wie er es im Vorfeld des Konzerts in einer Diskussion mit Matthew Studdert-Kennedy, Head of the Artistic Planning der Philharmonie, ausdrückte. Aus dieser Idee heraus, ein System zu konfrontieren, schlug er das Stück Sea Beneath The Skin vor, als Fortsetzung einer 2023 mit dem New Zealand Symphony Orchestra begonnenen Arbeit.
Um mit der Idee des westlichen Theaters zu brechen, und insbesondere damit, was es von den Zuschauern erwartet, entschied sich Lemi Ponifasio für eine Inszenierung entgegen aller Gewohnheiten. Er verlegt das Orchester in den Hintergrund, ins Halbdunkel und versteckt hinter einem fast blickdichten Maschenvorhang. So sind es nicht, wie man das bei einem klassischen Konzert wie dem Lied der Erde für gewöhnlich erwarten dürfte, die Musiker des philharmonischen Orchesters, die man beobachtet, um in ihrer Haltung, in einer Bewegung ein Indiz für die Qualität ihres Spiels zu entdecken. Es ist auch nicht der Dirigent – an diesem Abend der Brite Duncan Ward – dessen Meisterschaft man beobachtet, seine Gabe, das Orchester zu führen oder die Leichtigkeit seiner Gesten.
Lemi Ponifasio stellte vor diese Vorhangschranke, auf die von ihm so begrenzte Bühne, zwei weiß gefärbte Säulen, die den Blick auf den Dirigenten noch zusätzlich erschweren. Diese beiden Röhren erinnern an den Wald der etwa achthundert Säulen, die die Philharmonie umgeben und ihren Charakter ausmachen. Aber auf der Bühne stehen sie auch für den Kauri-Baum, einen der beiden Hauptdarsteller, die den Hintergrund des Stückes bestimmen. Der Kauri-Baum ist ein auf der neuseeländischen Nordinsel beheimateter Baum, der zu den größten der Erde zählt und bis zu fünfzig Meter hoch sein und einen Stammumfang von sechzehn Metern haben kann. Er kann über zweitausend Jahre alt werden. Forstlicher Raubbau hat die einstmals großen Kauri-Wälder weitgehend reduziert, zudem bedroht eine Krankheit seine Wurzeln. Der zweite Darsteller ist der Wal, der wie die Bäume und die Natur für die Ahnen der Samoaner steht. Auch dieser Meeressäuger ist bedroht, durch die Erderwärmung wie durch den intensiven Schiffsverkehr.
Dies ist kein Konzert
Und so ist es auf dem Rücken dieses Wales, dass Lemi Ponifasio uns das Lied der Erde wiederentdecken aber auch auf unbekannte Weise erleben lässt. Denn Sea Beneath The Skin ist kein Konzert, es ist eine Zeremonie. Lemi Ponifasio zieht es vor, seine Inszenierungen als Zeremonien zu betrachten, die sich aus verschiedenen Registern – Tanz, Theater, Oper – zusammensetzen, um zu verdeutlichen, dass er ein neues Verständnis von Kunst vermitteln möchte. «Ich bin wohl deshalb ein Künstler, weil ich nicht mag, was ich sehe», meinte er am Abend der Aufführung. «Ich will dem Publikum nicht einfach Musik zum Hören oder Tanz zum Anschauen geben. Ich will eine Möglichkeit finden, mit der es sich innerlich der Welt annähern kann.»
Und so geht es für den Zuschauer nicht einfach darum, sich zu setzen und zu urteilen, sondern teilzunehmen an dem, was sich vor den Augen abspielt: teilzunehmen an einer Zeremonie, die eine Gemeinschaft von Menschen vereint, die die Erde als gemeinsames Gut teilen. Das entspricht tatsächlich dem entgegengesetzten Weg, den die Samoaner in der Vergangenheit durch Missionare und andere Kolonisatoren gezwungen waren, zu gehen.
«Als die Europäer mit ihrer machtvollen Kultur in den Pazifik kamen, führten sie einen neuen Rahmen ein, wie die Welt zu betrachten sei. Wir wurden von Mitarbeitern zu Beobachtern», fügte Lemi Ponifasio in der erwähnten Diskussion hinzu. «Für uns ist die Natur etwas, mit dem du zusammenarbeitest, sie wird auch von unseren Ahnen bevölkert, sie sind das Meer und die Wale.» Es ist diese uralte Kosmovision, die Lemi Ponifasios Kunst rehabilitiert und auf den Bühnen der Welt verbreitet.
In Sea Beneath The Skin wird die Zeremonie von den Ensemblemitgliedern des Theaters der Kiribati-Inseln durchgeführt, die man bereits im Oktober 2023 in Jerusalem sehen konnte. Sie sind seit 2010 Teil der von Lemi Ponifasio gegründeten Truppe MAU. Und in den unterschiedlichen Projekten, an denen sie seit der ersten Inszenierung 2010 von Birds With Skymirrors bis hin zum jüngsten Stück, Sea Beneath The Skin, teilnahmen, nutzen sie die Bühne, um als Repräsentanten ihrer Communities auf die Folgen der Erderwärmung für ihre Inseln hinzuweisen, die in einigen Jahrzehnten dem Untergang geweiht sein werden.
Ode an die Entschleunigung der Zeit
Sea Beneath The Skin beginnt mit einer langsamen Aufstellung, die ein ungewöhnliches Tempo vorgibt. Eine Frau und ein Mann, schlicht gekleidet, interpretieren den rituellen Tanz des Haka neu. Lemi Ponifasio übersetzt nicht die Texte, die sie skandieren, noch geben sie einen textlichen Schlüssel zum Verständnis der folgenden Erscheinung, der überraschendsten und packendsten, von vier schwarz gekleideten Männern. Sie bewegen sich in kleinen, beschleunigten Schritten, dann bewegen sie sich im Rhythmus ihrer Hände, die auf verschiedene Teile ihrer Körper schlagen. Man könnte in ihnen Orakel sehen, ausgeliefert den Elementen der Natur – ihre Körper beugen sich im Wind und in den Wellen – und versuchen, sie vorherzusagen oder zu begleiten.
So beginnt der symphonische Teil nach einer ersten, dichten Einführung. Die beiden Solisten, der amerikanische Tenor Sean Panikkar und die anglo-singapurische Mezzosopranistin Fleur Barron stehen vorne auf der Bühne und singen abwechselnd die sechs Lieder des Liedes von der Erde. Während es die Schönheit der Natur und die Vergänglichkeit der Dinge rühmt, lässt das Meisterwerk von Gustav Mahler dem Menschen nur eine unrühmliche Rolle, die zwischen Verzauberung und der Verzweiflung über seine Endlichkeit schwankt, und die im Gegensatz zu der Ewigkeit der Natur steht.
Im zweiten Lied, «Der Einsame im Herbst», gesungen vom Mezzosopran, tritt ein weiterer Performer aus Kiribati auf, ein junger Mann im traditionell feierlichen Kostüm. Er durchschreitet die Bühne, während dieses und des nächsten Liedes, von einem Ende zum anderen, trägt dabei einen Behälter vor sich her, aus dem er an manchen Stellen ein weißes Pulver gießt und so kleine Häufchen bildet. Das verbreitete Material scheint eine Metapher für das Wasser zu sein, das sich in dem Kanal ausbreitet, den der Kauri-Baum mit der Kraft seiner Wurzeln gegraben hat, um seinen Freund, den Wal, der von einer Trockenheit überrascht worden war, zurück ins Meer zu führen. Das ist es, wovon das Märchen erzählt, das das Muster von Sea Beneath The Skin bildet, und das die Resilienz der Erde ebenso betont, wie es auf sie hofft. Lemi Ponifasio hütet sich, diese Worte verstehbar zu machen, geht es ihm doch um eine physische und spirituelle Erfahrung und nicht um einen Diskurs, über den man nachdenken soll.
Während sich der Gesang des sechsten Liedes von der Erde über siebenundzwanzig Minuten hinzieht, bleiben nur noch die Solistin, und das kaum zu sehende Orchester im Hintergrund. Doch die Bühne ist verschmutzt – oder ist sie gesalbt? – durch die unterschiedlichen Auftritte des letzten Performers. In visueller Hinsicht erlebt das Publikum seine Gewohnheiten vollkommen durcheinander gebracht.
Selbst wenn die Performer aus Kiribati nicht auf der Bühne sind, strahlen die Spuren ihrer Anwesenheit und ihre Präsenz aus dem Hinterhalt immer noch auf das Stück ab. In der letzten Szene, die den Performern aus Kiribati überlassen wird, während das Orchester seine Partitur beendet hat, aber noch nicht den traditionellen Applaus ernten konnte, ruft Lemi Ponifasio seine Kunst des Tableaus in Erinnerung.
Der Ton, der in früheren Produktionen oft ohrenbetäubend war, wirkt hier eher wie eine summende Erinnerung aus der Tiefe, bevor der Gesang der Wale einsetzt. Das Licht enthüllt die Körper und insbesondere den des Performers, des Zeremonienmeisters, der schließlich seine Festkleidung, seine zweite Haut, ablegt, um sich neben den Kauri-Baum zu legen, in der Schlussszene einer Zeremonie, der es gelingt, Gegensätze und Welten zu vereinen, für den Fortbestand aller.
Jérôme Quiqueret wuchs in Frankreich auf, in den Vororten von Nancy. Abiturient mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften im Jahr 1997, studierte er anschließend Geschichte an der Universität Nancy, wo er im Jahr 2002 seinen Master machte. Seit 2003 lebt er in Luxemburg, wo er als Journalist, unter anderem für Le Quotidien, Le Jeudi, Europaforum und das Tageblatt arbeitet. Er schreibt hauptsächlich über soziale, kulturelle und humanwissenschaftliche Themen. Gleichzeitig ist er Autor literarischer Texte zu historischen Themen. Sein erstes Buch, Tout devait disparaître erschien 2022 im Verlag Capybarabooks und brachte ihm im Jahre 2023 den Prix Servais ein.
Übersetzung: Markus Pilgram