القدس Jerusalem

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القدس Jerusalem Bilder: Inês Rebelo de Andrade

القدس Jerusalem oder die Suche nach dem Göttlichen, von Lemi Ponifasio

von Jérôme Quiqueret

«Mein ganzes Leben habe ich mich darauf vorbereitet, und jetzt ist es passiert.» Wenn er von den Anfängen von القدس Jerusalem spricht, meint man bei Lemi Ponifasio durchzuhören, dass er dieses Stück nicht, wie es in seiner Biografie heißt, erst 2019 inszeniert hat. Und darüber hinaus bedurfte القدس Jerusalem auch nicht der Ereignisse vom Oktober 2023, um auf der Höhe der Zeit zu sein…

Die Kindheit eines Meister… werkes

Jerusalem, die Stadt, trat tatsächlich schon früh in das Leben des zum red bridge project eingeladenen Choreographen und Regisseurs. Über die Bibel, mit der er auf Samoa, der Insel, auf der er aufwuchs, das Lesen lernte. Dies war Mitte der 1960er Jahre, und der angehende Exeget dachte, aus seiner Lektüre schließen zu können, dass Jerusalem ein Dorf im Paradies sei. Und als er, nur wenig älter, Nachrichten von einem Konflikt hörte, der später der «Sechs-Tage-Krieg» genannt werden würde, glaubte er, dass der Krieg im Paradies ausgebrochen sei.

القدس Jerusalem, die erste Inszenierung von Lemi Ponifasio im Rahmen des red bridge project, die am 13. und 14. Oktober 2023 im Grand Théâtre de Luxembourg gezeigt wird, geht dieser in den frühen Jahren erlebten Ambivalenz nach, die sich zwischen Ruhe und Zerstörung, Liebe und Hass bewegt.

Lemi Ponifasio verweist auf diese weit zurückreichende innere Verbindung mit Jerusalem, wenn er sich dafür entschuldigt, dass er dieses Stück im Jahr 2019 in nur vier Tagen auf die Beine gestellt hat. Um mit seinem von Optimismus vielmehr als von höflicher Verzweiflung getragenem Humor hinzuzufügen: «Keine Angst, ich arbeite daran bereits mein ganzes Leben.»

Denn in der Vorstellung dieses Dramatikers ist sein Werk, ja man könnte fast sagen: sein ganzes Leben, ein einziger Tanz, den er für jede neue Vorstellung lediglich in einer neuen Variante vorstellt. «Dies sind unterschiedliche Weisen, das Göttliche zu finden, zu versuchen, ein höheres Bewusstsein zu erreichen,» so Ponifasio während des mit dem Autor und Journalisten Jeff Schinker im Vorfeld der Premiere von القدس Jerusalem geführten Künstlergesprächs.

Von der Community zur Kosmovision, oder: die Kunst der Übereinstimmung

«Ich bin kein Hippie, ich schwöre es», betont Lemi Ponifasio gerne, wenn er von seinen Untersuchungen der kosmischen Energie an seinen Aufführungsorten erzählt. Gerne möchte man glauben, dass es unpassend wäre, ihn einen Hippie zu nennen, wenn man seine Ausführungen zu den beiden eng miteinander verbundenen Begriffen hört, die sein ästhetisches Suchen bestimmen: die Weltanschauung – oder Kosmovision, und die Communities.

Für Lemi Ponifasio ist es wichtig, in seinem Ausdruck seiner Herkunft treu zu bleiben, den Gemeinschaften, in denen seine Weltanschauung entstand. «Ich komme aus einer Kultur, in der man gerne mit Leuten zusammen ist, in der man sich selbst und den Anderen im Kontext der Gemeinschaft erfährt. Gemeinschaft ist, wie sich das Miteinander anfühlt; das sind wir alle, die wir einen Weg finden, gemeinschaftlich mit den unterschiedlichsten Menschen einen Weg zu finden.» Für den aus Samoa stammenden Künstler ist klar, dass ein Großteil der in der Welt herrschenden Angst von einer Entfremdung unserer Communities rührt, von einem Mangel an Übereinstimmung unserer Körper mit der Natur. «Es gibt da einen Spirit, der Ihr Leben bestimmt, der die Erde belebt und der aus unserer Weltanschauung stammt. Ich könnte nicht tanzen wie Nijinsky. Seine Weltanschauung ist eine andere als die meine. Wenn ich versuchen würde, wie er zu tanzen, würde es mir vielleicht gelingen, aber der Spirit, der meinem Tanz innewohnen würde, wäre nicht derselbe. Unsere Körper gehören uns nicht allein. In unseren Körpern stecken unsere Vorfahren, steckt unser ganzes Dorf. Sie mischen sich in unser Leben ein. Sie bringen uns Dinge. Sie ermutigen uns. Wenn wir unseren Körper an andere Orte führen, beginnen wir, uns von unserem inneren Wesen zu trennen.»

Diese Methode, die Tradition als eine schöpferische Kraft zu sehen und die Welt durch sie zu denken, stellt einen Bruch dar. Lemi Ponifasio schöpft die Energie und die für sein Schaffen nötige Hingabe aus einigen grundlegenden Handlungen seiner Community (den Zeremonien, der Familie, dem Fischfang…): «Ich komme auf die Gemeinschaft zurück, weil ich dort meine authentischste Übereinstimmung finde, um über die Performance und über das Leben nachzudenken.»

Von der Gemeinschaft ins Universelle

Die Übereinstimmung mit der Tradition ist zweifellos eine Voraussetzung, um anderen Communities zu begegnen. «In meiner Kultur herrscht die Vorstellung, dass wir unvollständig zur Welt kommen. Wir suchen andere Menschen und Orte, um vollständig zu werden,» meint Lemi Ponifasio, der in seiner künstlerischen Praxis auch in den Werken anderer Communities neue Wege der Begegnung sucht, neue Räume, um sich auszutauschen. In Tempest: Without a Body (2007) griff er sowohl auf William Shakespeare als auch auf die Kultur der Maori zurück, um die Einschränkungen der Freiheiten nach den Attentaten vom 11. September 2001 wie auch den Kolonialismus in den Blick zu nehmen. In Sea Beneath The Skin (14. Juni 2023) wird er traditionelle Rituale aus dem Pazifik, dargeboten von Künstler*innen aus der Inselrepublik Kiribati, dem Lied von der Erde von Gustav Mahler gegenüberstellen, das von den Lëtzebuerger Philharmonikern interpretiert werden wird.

Dabei gibt er sich nicht zufrieden damit, das Wort nur seiner eigenen Community oder den ihm nahe stehenden zu geben. Wenn er sich im Ausland aufhält, arbeitet er auch mit lokalen Gruppen. So zum Beispiel in Chile, wo er im Jahr 2013 ein chilenisches Forum zur Reflexion schuf und Künstler*innen, Aktivist*innen und Mitglieder des Volkes der Mapuche einlud, in einer Art Neuauflage von MAU, einem 1995 in Neuseeland gegründeten Forum. Aus dieser chilenischen Erfahrung heraus schuf er das Stück Love to Death, das am 2. und 3. Februar 2024 im Grand Théâtre gezeigt werden wird. Hierfür wird er eine Musikerin der Mapuche, Elisa Avendaño Curaqueo, sowie die Flamencotänzerin Natalia García-Huidobro gemeinsam auf die Bühne bitten und die Beziehung zwischen Mensch und Natur sowie zwischen den Geschlechtern zum Thema machen.

Auch mit den Communities in Luxemburg wird er aktiv zusammenarbeiten, für The Manifestation (29. Juni 2024, im Mudam) und für Credo – I Believe (09. November 2024 in der Philharmonie).

Das Stück القدس Jerusalem seinerseits bringt Gesänge der Maori mit dem Geist des syrischen Poeten Adonis zusammen. Am Ende eines sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Prozesses wurde dieser syrische Dichter für ihn zu einer Quelle der Inspiration. Sich das genauer anzuschauen erlaubt es, Lemi Ponifasios Art und Weise in der Welt zu sein und kreativ zu arbeiten, besser zu verstehen. Im Jahr 1982 studierte Ponifasio in Neuseeland. Damals bat er einen Freund, der als Journalist vom Krieg im Libanon berichtete, ihm die dortige Situation zu schildern. Der Reporter antwortete ihm: «It’s a time between ashes and roses» («Es ist eine Zeit zwischen Asche und Rosen»).

Diese poetischen Worte klangen lange in den Ohren Ponifasios nach, ohne dass er ihren Urheber kannte. Und erst als er erneut mit dem Weltgeschehen konfrontiert wurde, sollte er mehr darüber erfahren. Als Ponifasio als weithin anerkannter Choreograf und Dramaturg arbeitete, hielt er sich im Juli 2005 als Kurator des London International Festival of Theatre in der britischen Hauptstadt auf. Am 7. desselben Monats schaute er sich die Aufführungsorte des Festivals an und befand sich an der U-Bahnstation Liverpool Street, wo sich eines der islamistischen Attentate mit insgesamt mehr als fünfzig Toten ereignete, die die Stadt erschütterten.

Bevor er in einen Zug stieg, um zur Universität nach Cambridge zu gelangen, stieß er auf einen Gedichtband des syrischen Dichters mit dem Titel A Time Between Ashes and Roses. Im nahezu leeren Flugzeug, das ihn am nächsten Tag zurück in die Pazifikregion bringen sollte, las er dann diese 1970 geschriebenen Gedichte, die vier Jahre nach der einzigen Reise ihres Autors Adonis nach Jerusalem geschrieben worden waren. 2017 in Paris, nach einem gemeinsamen Essen mit Adonis, bei dem ihm dieser seinen Band Concerto Al Quds überreichte und in dem es erneut um Jerusalem geht, stieß Lemi Ponifasio dann auf die Bilder, die Donald Trump an der Klagemauer zeigten. Dies war für ihn das auslösende Element.

Ein Zeremoniell für Jerusalem

القدس Jerusalem beginnt mit dem eindringlichen Gesang der Maori, der von vier im Halbdunkel stehenden Frauen stammt. Dann wird im Hintergrund eine Mauer erleuchtet, die wirkt, als sei sie aus Marmor und die an die Klagemauer erinnert, gleichzeitig aber auch eine Mauer der Forderungen ist. Ein Mann geht langsam vor der Mauer hin und her, er trägt eine schwarze Fahne. Schlachtenlärm wechselt sich ab mit Glockengeläut und Vogelgesang. Klänge der Freude und der Gelassenheit stehen solchen der Zerstörung gegenüber.

In einer Reihe folgen Bilder aufeinander, mit Präzision in Beleuchtung, der Position der Künstler und der Lautstärke der Mikrofone, also all der Details, auf die Lemi Ponifasio während der Proben im Grand Théâtre besonders achtete. Es tritt ein Mann mit Maschinenpistole auf, der mit einem Kriegstanz, einem Haka, den Feind herauszufordern und das Territorium zu markieren scheint. Dann ist es an der Hauptdarstellerin, ihren eigenen Hakatanz aufzuführen, diesmal mit einem Schraubenschlüssel.

Die langsamen und fließenden Bewegungen der Maorikünstlerinnen stehen im Gegensatz zum ruckartigen Vorgehen der verwirrten und offenkundig aus dem Westen stammenden Figur, die die Zeremonie gleich mehrmals stört. Er ist es, der einer Frau die Waffen in die Hand drückt und sie anschließend drängt, ihr Territorium mit kleinen Fähnchen abzustecken. Er ist es auch, der im Schlussbild ein Mitglied der Gemeinschaft entmenschlicht, dem er seine Weste abnimmt und das sich dann wie ein Affe verhält, der, vom Publikum beobachtet, sich mit einer schwarzen Flüssigkeit einschmiert. Es wirkt wie eine Wiederbelebung der populären menschlichen Zoos des späten 19. Jahrhunderts, wo der Öffentlichkeit Stammesmitglieder aus fernen Ländern gezeigt wurden. Bei diesem Mal filmt eine Kamera den zum Tier gewordenen Mann, der auch als ausgebeutetes und in einem Bergwerk ausgesetztes Wesen erscheint, aus dem es ihm nicht mehr gelingt, zu entkommen. Sein Tod wird zum Mittelpunkt eines Rituals, einer Zeremonie innerhalb des Zeremoniells.

Eine kreisende Kunst

Die Entstehung des Stücks القدس Jerusalem steht stellvertretend für Lemi Ponifasios Art zu arbeiten. «Es gibt gewisse Orte, gewisse Menschen, die man aufsucht und durch die man sein Bewusstsein zu erweitern sucht. Das ist es, was ich mit dem Theater mache: ich versuche, durch künstlerisches Schaffen mein Bewusstsein zu erweitern. Manche Leute schreiben Bücher, ich mache Performances. In diesem Prozess machst du so viele Dinge durch. Und das ist nicht anders mit diesem Stück.» Wenn in diesem Oktober mit dem im Nahen Osten zu befürchtenden Flächenbrand die Politik sein Stück einholen wird, wird er dennoch dazu keine besondere Erklärung abgeben: «Wenn ich etwas mache, dann denke ich es durch, ich durchquere es. Ich denke dann nicht darüber nach, ob es Kunst ist oder etwas Politisches.» Dennoch ist es, als hätte nun das Alltägliche das Zeitlose eingeholt. Es ist ein Unding, denn für Lemi Pomifasio besteht die Kunst gerade darin, dem Alltag zu entfliehen. «Ich denke, es ist die Aufgabe des Künstlers, über den Alltag hinaus zu blicken», wiederholt er immer wieder.

Kunst bedeutet, über das Bekannte hinauszugehen, also auch über diese «absolute und nicht verhandelbare Wahrheit, die jeden freien Gedanken verbietet», und wovon für ihn die Ereignisse in Israel und Palästina eine Folge darstellen. Die von ihm 1995 gegründete Künstlergruppe wurde MAU genannt, was in der Sprache Samoas das Streben nach der Wahrheit bezeichnet, den Weg vielmehr als die Ziellinie. «Für mich ist das Leben nicht von einer fixen Idee bestimmt. Deshalb mache ich Performances. Blumen blühen und sterben an jedem Tag.» Sein Gespür für die Vergänglichkeit der Dinge und für das Fließen hat mit Sicherheit etwas damit zu tun, dass er aus einem von Wasser umgebenen Teil der Welt kommt. Und Jerusalem löst in ihm übrigens einen «Strom des Bewusstseins» aus.

Es sind solche Erfahrungen, die Lemi Ponifasio gerne mit den ins Theater kommenden Zuschauern teilen würde. Dabei ist es ihm nicht wichtig, dass das Publikum die die in القدس Jerusalem erklingenden Gesänge der Maori versteht. Er wünscht sich vielmehr, dass sie die Empfindungen ihrer Körper und ihre Gefühle wahrnehmen, dass sie an einer «Zeremonie» teilnehmen, und nicht in Kategorien von «Tanz», «Theater» oder «Oper» über das Stück nachdenken, Kategorien, die man ihm als Künstler gerne überstülpt. Man könnte es aus Spaß eine kreisende Kunst nennen, spricht man doch in seiner Kultur nicht von einem Künstler, sondern von einer Person «die gewisse Richtungen vorschlägt», wie er betont.

Dies mag stören, missfallen gar, aber das akzeptiert er. «Wir machen Kunst, das gefällt manchen, manchen nicht. Theater ist nichts, was man unbedingt mögen muss. Aber man sollte ihm Raum geben. Die Zuschauer dürfen schlafen oder auch gehen, wenn sie wollen.» Und tatsächlich konnte man während der Premiere von القدس Jerusalem erleben, wie Zuschauer zum Teil absichtlich laut den Saal verließen, was für die Radikalität des Stückes sprach und dafür, welchen Anspruch es an den Zuschauer stellte, um als Begegnung überhaupt zu funktionieren. Und dass es funktioniert hatte für die übergroße Zahl an Zuschauern zeigte schließlich der Applaus für dieses außergewöhnliche und kostbare Stück.

 

Jérôme Quiqueret wuchs in Frankreich auf, in den Vororten von Nancy. Abiturient mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften im Jahr 1997, studierte er anschließend Geschichte an der Universität Metz, wo er im Jahr 2002 seinen Master machte. Seit 2003 lebt er in Luxemburg, wo er als Journalist, unter anderem für Le Quotidien, Le Jeudi, Europaforum und das Tageblatt arbeitet. Er schreibt hauptsächlich über soziale, kulturelle und humanwissenschaftliche Themen. Gleichzeitig ist er Autor literarischer Texte zu historischen Themen. Sein erstes Buch, Tout devait disparaître erschien 2022 im Verlag Capybarabooks und brachte ihm im Jahre 2023 den Prix Servais ein.

Übersetzung: Markus Pilgram